Was ist radikale Philosophie?

Vorläufig abschließende Definition des Selbstverständnisses radikaler Philosophie

„Radikale Philosophie ist eine intellektuelle Tätigkeit, die vom Selberdenken jedes Menschen ausgeht und dessen Stärkung zum Ziel hat. Sie ist eine inkonklusive Gestalt der Wahrheitspolitik, die sich nicht mit relativistischer Gleichgültigkeit zufrieden gibt, die aber auch nicht beansprucht, die eigenen / Wahrheitsziele selber einlösen zu können. Dazu antizipiert sie eine befreiende historisch kontingente Praxis der Vielen, eine Vollendung der Aufklärung in der Entfaltung der theoretischen Durchdringung eben dieser Praxis und eine ebenso kontingente schöpferische Tätigkeit der Künste – indem sie ‚Platzhalter‘-Konzepte produziert, die dazu beitragen, das Fragen nach diesen Antworten in Gang zu bringen und in Gang zu halten.

Ihre Arbeit mit philosophischen Mitteln arbeitet den eingeführten Evidenzen der herrschenden Philosophieform entgegen, die immer zugleich eine Herrschaft von Menschen über Menschen legitimiert. Diese philosophischen Mittel sind dabei nicht ein für alle Mal schon festgelegt, sondern werden von der radikalen Philosophie ebenso vorgefunden wie entdeckt und erfunden. Die Stunde der radikalen Philosophie schlägt besonders in den Perioden der Niederlagen und der Rückschritte in der gesellschaftlichen Praxis. Denn angesichts der Erschöpfung der praktischen Initiativen der Vielen kann sie – während wissenschaftliche Forschung und künstlerische Erfindung z. T. noch von den Impulsen vergangener Aufschwünge bestimmt bleiben oder von Gegentendenzen einer erneuten Verstärkung der Herrschaft in Anspruch genommen  werden – mit philosophischen Mitteln daran arbeiten, innerhalb des vorliegenden Gedankenmaterials in neuer Weise zwischen noch Brauchbarem und unbrauchbar Gewordenem zu unterscheiden und zugleich neue Fragen auf den Weg zu bringen.“

Frieder Otto Wolf: Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, Münster 2002, 2009, 193f.

„Radikale Philosophie begibt sich in Gefahr und kommt darin um. So könnte jemand wohl ‚vom Standpunkt des Sirius‘ (wie Merleau-Ponty die verächtliche Distanz gekennzeichnet hat, welche die traditionelle, affirmative Philosophie zu den menschlichen Dinhen [Aristoteles] eingehalten hat) die Geschicke der aporetischen Initiativen beschreiben, in denen die Tätigkeit radikaler PhilosophInnen besteht. Damit wäre aber überhaupt gar nichts verstanden: Weder worum es geht, noch was der Einsatz ist – und worin auch die Erfolge derartiger Initiativen bestehen können.

Radikale Philosophie kann sich nicht, ohne sich selbst aufzugeben, damit begnügen, die eigene Programmatik methodologisch zu konstruieren, wie ich dies in „Radikale Philosophie“ {Münster 2002} unternommen habe, oder auch auf dem vergleichbar sicheren Terrain einer Analyse der Tätigkeit von mehr oder minder radikalen oder auch mehr oder minder affirmativen PhilosophInnen bleiben, wie dies der metaphilosophische Band über die „Tätigkeit der PhilosophInnen {Münster 2003} getan hat. Sie muss sich darüber hinaus ‚ins Getümmel‘ wirklicher Auseinandersetzungen ihrer Zeit begeben.“

„Radikale Philosophie kann sich ganz generell auf gesellschaftliche Praxis beziehen, indem sie in Debatten darüber eingreift, wie wir Menschen uns eine Gesellschaft wünschen, in der wir wenigstens hoffen können, gut zu leben. Die hat etwa Thomas Heinrichs in „Freiheit und Gerechtigkeit“ {Münster 2002} getan. Angesichts  der seit den 1970er Jahren vollzogenen Erneuerung der praktischen Philosophie, sowohl in der Ethik als auch in der politischen Philosophie hier durchaus ein reichhaltiges  und auch ‚ergiebiges‘ Tätigkeitsfeld. Ebenso angesichts programmatischer Tendenzen, die Selbstverständigung unserer Zeit über ihre Wünsche und Kämpfe wieder als ein primär philosophisches Projekt zu betreiben, wie dies etwa Antonio Negri und Michael Hardt vertreten. Aber auch das muss bei genauerer Betrachtung unbefriedigend bleiben: Es reicht letztlich nicht über Zeitgeist-Kämpfe im Feuilleton hinaus – die niemand gering schätzen sollte. Deswegen muss sich radikale Philosophie darüber hinaus gerade heute wieder, nach dem Katzenjammer postmoderner ‚Wissenschaftskritik‘, mit kritischer Wissenschaft verbinden, um einen wirksamen Beitrag zur Erneuerung emanzipativer gesellschaftlicher Praxis leisten zu können.“

Frieder Otto Wolf: „Vorbemerkung“, in: Jan Hoff u.a., hg.: Das Kapital neu lesen, Münster 2006, S. 7 u. 8

„Kritische Wissenschaft steht heute vor vielen Gelegenheiten. Die in den 1990er Jahren entfalteten globalisierungskritischen Bewegungen haben ihr neue Impulse gegeben. Zugleich haben WissenschaftlerInnen in weltweiten theoretischen Debatte darum gerungen, zu begreifen, was in dem ‚langen Abschwung‘ seit 1973 und in der Nixon-Thatcher-Reagan Bifurkation geschehen ist – und wie heute die Wünsche und Kämpfe unserer Zeit neu zu artikulieren sind. Daher kann kritische Wissenschaft diese Gelegenheiten heute ergreifen, ohne sich gleich im toten Holz der theoretischen Traditionen früherer Emanzipationsbewegungen zu verstricken, ohne sich aber deswegen in den ‚ewigen Frühling der Amnesie‘ stürzen zu müssen. Es liegt an uns, nicht der subalternen Ideologie der Selbstmarginalisierung zu erliegen, sondern die in der heutigen historischen Situation legenden Chancen zu ergreifen. Dafür brauchen wir dringend einen Raum der kritischen Reflexion – wie ihn die radikale Philosophie immer wieder frei räumen  kann und muss.“

Frieder Otto Wolf, „Kritische Wissenschaften und Radikale Philosophie, in: Ders., Radikale Philosophie, Münster ²2009, 291f.

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