Fetisch Selbstbestimmung? Ein Einspruch

Ein falsches Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmung in der Moderne rechtfertigt nicht die „bergenden Fesseln“ der Vormoderne! Bevormundung ist keine Alternative.

Fetisch Selbstbestimmung?

Sokrates trank den tödlichen Schierlingsbecher, obwohl seine jungen Freunde, seine Flucht schon sicher organisiert hatten. Auch von Kleopatra wird erzählt, sie habe sich nach dem Scheitern ihrer großen politischen Pläne selbst „den Tod gegeben“, anstatt sich gefangen nehmen zu lassen. Seneca schnitt sich die Pulsadern auf und dämmerte im Bad dahin, nachdem ihm sein Kaiser dazu aufgefordert hatte, obwohl es ihm zweifellos gut möglich gewesen wäre, in ein unauffälliges Leben auf dem Lande und in der Provinz ‚unterzutauchen‘. Ferdinand Lassalle warf lieber sein Leben in einem tödlichen Duell weg, als eine schwere Beleidigung einfach weiterhin zu erdulden. Die Geschichte Europas ist geradezu von ‚großen Männern‘ (und einigen wenigen ‚großen Frauen‘)  bevölkert, die auf eine Weise „selbstbestimmt“ den Tod gefunden haben, die doch fraglich sein sollte. Und auch heute noch treffe ich immer wieder auf Männer, die erklären, dass sie lieber den „Freitod“ suchen würden, als im Alter dement dahinzuvegetieren. Auch diese Heroisierung des Suizids versteht sich aber keineswegs von selbst. Es gibt auch dazu Alternativen, die zu prüfen und für deren Verwirklichung zu arbeiten und zu kämpfen ist.

Soweit kann ich es durchaus ein Stück weit nachvollziehen, wenn Ulrike Baureithel im Septemberheft der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ die These vertritt, man könne in einem bestimmten Sinne „von einem Fetisch Selbstbestimmung sprechen“ (S.117). Aber ich sehe ein gravierendes Problem darin, wie sie in ihrem Text diesen Sinn konkret näher bestimmt: Ich denke nämlich, dass sie vor lauter durchaus berechtigter Abwehr gegenüber der erzkapitalistischen Vorstellung vom Menschen als ‚freiem UnternehmerIn seiner/ihrer selbst“ und gegenüber der erzpatriarchalischen Vorstellung, erst in der sog. ‚Todesverachtung‘ werde wirkliche Freiheit betätigt, gleichsam das Kind der Selbstbestimmung mit dem Badewasser von in der Tat problematischen Freiheitsvorstellungen ausschüttet.

Es gibt für mich keinen Zweifel daran, dass es in der Tat – wie Ulrike Baureithel den Deutschen Ethikrat referiert – eine unleugbare und unverzichtbare „Dimension der Selbstbestimmung „ gibt, „die auf den Anderen bezogen ist, auf dessen achtsamen Respekt“ (ebd.), so dass dessen „sorgendes Mitdenken“ durchaus zur Grundlage einer „assistierten Selbstbestimmung“ werden kann, für die dann gilt: „Die einstmals emphatische Wahlfreiheit, die sich auf begründende Zusammenhänge bezieht, verengt sich dann auf einfache Ja-Nein-Entscheidungen im bedürfnisorientierten Erlebensraum und äußert sich möglicherweise nur noch mimetisch – aber sie verlöscht nicht grundsätzlich.“ (ebd.) Jede und jeder einigermaßen sensible Mensch, der einmal in ihrem Handeln und Reden sehr stark eingeschränkte Menschen gepflegt hat, wird diese Feststellung nachvollziehen können.

Aber damit verschwindet die andere Dimension der Selbstbestimmung nicht, die darin liegt, dass jeder – wie die deutsche Rechtssprache es ziemlich sperrig, aber doch genau formuliert – „freiwillensfähige“ Mensch selber über sich selbst entscheiden darf, kann und dies letztlich auch muss. Das kann und darf ihm oder ihr niemand anderer abnehmen – auch nicht aus einfühlsamer Fürsorglichkeit. Das gilt auch etwa für die Demenz: Der von Ulrike Baureithel zitierte „Philosoph Volker Gerhardt“ hat schlicht Recht, wenn er an die Tatsache erinnert, dass es Menschen gibt, für die „die Demenz“ eine „‘biographische Katastrophe‘“ darstellen kann, so dass sie den individuell berechtigten, wenn auch deswegen noch nicht auf andere übertragbaren „Wunsch“ entwickeln, „lieber ‚selbstbestimmt zu sterben‘ als zu einem ‚unmündigen Pflegefall‘ zu werden“ (S. 117 Anm. 23) – und es gibt keinen tragfähigen Grund dafür, ihnen die Erfüllung dieses Wunsches zu verwehren, selbst wenn wir kritisieren könnten, dass sie sich damit aus dem Kampf für bessere Verhältnisse und Bedingungen verabschieden.

Judith Butler hat in ihrem in demselben Heft der Blätter abgedruckten Frankfurter Rede zur Verleihung des Theodor-W.-Adorno-Preises für die Problematik, um die es hier letztlich geht, genaue und knappe Worte gefunden: es geht auch hier „nicht um die Überwindung der Interdependenz, es geht … vielmehr um Bedingungen, unter denen die Interdependenz und Verletzlichkeit lebbar werden“ (S. 108). Und dazu gehört, von Judith Butler unter dem Titel von „demokratischen Prinzipien“ (ebd.) bzw. von „Vorgaben radikaler Demokratie“ (ebd.) angesprochen, unverzichtbar auch die gleiche Freiheit aller, die jegliche Bevormundung „freiwillensfähiger“ Menschen ausschließt.

Als eigener Hintergrund der Tendenz, die Ulrike Baureithel hier immer wieder über eine nüchterne Betrachtung der wirklichen Probleme in Richtung eines Plädoyers für eine faktische Entmündigung von Beteiligten und Betroffenen durch gesetzliche Verbote, etwas zu tun oder zu wissen, hinausschießen lässt, lässt sich eine übermäßig vereinfachte Rekonstruktion der heutigen Gesellschaft ausmachen, der gemäß auf der einen Seite eine „so verstandene Selbstbestimmung“ steht, welche „das ‚Du‘, das Gegenüber braucht, um realisiert werden zu können“ – wie dies bei menschlicher Selbstbestimmung doch bekanntlich, auch in der Moderne, durchweg der Fall ist – und ihm als Alternative auf der anderen Seite ein mixtum compositum, ein heterogenes Gemisch, als ideologisches Konstrukt aus kapitalistischem „Besitzindividualismus“ (C. B. Macpherson) und patriarchalisch-männlicher Selbstheroisierung entgegengestellt wird, das sich im wirklichen menschlichen Leben in der Tat so entweder nicht finden lässt oder aber auf mehr oder minder gewalttätig durchgesetzte Verkehrungen verweist: „Den Gegenpol bildet das solitäre, umfassend informierte und sich selbst steuernde Individuum, das unter ständigem Entscheidungszwang steht.“ (S. 117) Aber auch ohne eine besitzindividualistisch verstandene Einzigkeit – wie sie Max Stirner in seinem einflussreichen Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“ zu Ende gedacht hat – und ohne die heroische Fiktion, alles aus eigener Kraft zu tun und dabei ‚des Todes nicht zu achten‘ – wie sie schon Diderot und Hegel in ihren Analysen des Herr-Knecht-Verhältnisses kritisch aufgespießt haben – bleibt es nötig, anzuerkennen, dass der Einzelne in ganz elementaren Fragen das letzte Wort hat und niemand sich an seine Stelle setzen kann und darf, so sehr dieser Einzelne auch des guten Rates und der tätigen Hilfe bedürftig sein mag.

Auch wenn es unbestreitbar ist, dass die Verhältnisse nicht so sind, wie es für einen umfassenden „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) erforderlich wäre, wäre eine Rückkehr zu den „bergenden Fesseln“ vormoderner Verhältnisse daher ethisch und politisch falsch, selbst wenn sie möglich wäre.

Deswegen ist es eben nicht dem „Furor öffentlicher Selbstbestimmungsrhetorik“ geschuldet, wenn ernsthaft zwischen „Tötung auf Verlangen“ und „Suizidassistenz“ unterschieden wird – was Ulrike Baureithel mit der wolkigen Formulierung verweigert: „grundsätzlich vertrauen wir darauf, dass uns unser Nächster nicht zu Tode bringt“ (S. 116). Oder wenn eine Frau (bzw. ein potenzielles Elternpaar) wissen will, was moderne diagnostische Methoden über wahrscheinliche Lebens- und insbesondere Erkrankungsaussichten eines Embryos herausfinden können – und dabei sehr wohl zwischen probabilistischen Prognosen und singulären Diagnosen – zwischen einem „statistischen Risikoprofil“ und einem „konkreten Risiko“ (S. 111) – zu unterscheiden weiß (bzw. wissen) und auch keineswegs damit zugleich auch die Menschen, welche auf der Grundlage der von ihr nicht gewählten Lebensperspektiven ihr Leben führen, gering zu achten oder zu diskriminieren geneigt sein muss (bzw. müssen). Und sogar „Fälle …, bei denen sich Frauen vorsorglich die Brust haben abnehmen lassen, weil sie angeblich Trägerinnen des Brustkrebsgens sind und das Risiko, irgendwann einmal an Brustkrebs zu erkranken, nicht eingehen wollen“ (S. 111), belegen nicht etwa, wie problematisch „eine Entscheidung unter dem Vorzeichen der Selbstbestimmung“ (ebd.) ist, nachdem einmal „biomedizinisches Wissen in die Alltagspraxis transferiert wird“ (S. 110) – sie zeigen nur, dass auch noch gelernt werden muss, mit dem derart transferierten Wissen auch umzugehen. Und letztlich wird auch niemand das Recht dazu haben, einer dieser betroffenen Frauen diese Brustoperation zu verbieten, wenn sie etwa doch zu dem Schluss käme, dass es für sie das Beste wäre.

Ganz grundsätzlich noch einmal: Es ist theoretisch und praktisch unzureichend, die – wie Ulrike Baureithel polemisch formuliert – „Nobilitierung des Selbstbestimmungsrecht“ (S. 110) in modernen bürgerlichen Gesellschaften, die sich insofern von feudal organisierten Gesellschaften, von Kastengesellschaften oder auch von Sklavenhaltergesellschaften unterscheiden, einfach nur als Resultat eines „Individualisierungsschubs“ zu begreifen – wie dies einst der kluge und marxistisch informierte Ferdinand Toennies getan hat, der deswegen den Gegensatz von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ konstruierte.

Aufgrund des modernen, sachlich vermittelten Herrschaftsstruktur der Kapitalherrschaft (und der Modernisierung anderer Herrschaftsverhältnisse, bis hin zur Durchsetzung moderner Staatlichkeit) ist hier zu unterscheiden zwischen einer formellen Dialektik von Freiheit und Gleichheit in Gestalt einer Politik der Gleichfreiheit, welche sich in der Durchsetzung von Menschen- und BürgerInnen-Rechten entfaltet und  der inhaltlichen Durchsetzung neuer, moderner oder auch modernisierter Herrschaftsverhältnisse von historisch unerhörter Durchschlagskraft, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse in modernen Staaten immer tiefgreifender prägt. Das verbietet in der Tat einen unkritischen und unreflektierten Umgang mit der elementaren Forderung nach der Freiheit und Gleichheit aller, insbesondere die Illusion, dass sie bereits durchgängig realisiert seien – aber es rechtfertigt keineswegs den Versuch, diese Dialektik stillstellen zu wollen: Autonomie und Selbstbestimmung sind in den historischen Entwicklungsprozessen unserer modernen Gesellschaften zu verteidigen und zu radikalisieren und keineswegs einzuschränken und zurückzunehmen!   Die Fetischisierung liegt bei den Herrschaftsverhältnissen und nicht auf der Seite der Kämpfe um eine wirkliche Befreiung.