Radikale Philosophie – Denken im Zeitbruch

Erschienen in: Marburger Forum. Beiträge zur geistigen Situation der Gegenwart  Jg. 3 (2002), Heft 4

1. Wir leben in einer neuen Zeit, in der zwar immer noch die kapitalistische Produktionsweise herrscht, aber auf eine tiefgreifend veränderte und sich immer noch verändernde Weise: Klassische Formen der Lohnarbeit treten zurück, Europa ist nicht mehr die zentrale Bezugsrealität und Ansätze zu einer Weltgesellschaft definieren die Rolle selbst der mächtigsten Staaten in Frieden wie im Kriege in Richtung auf ein strategisches Handeln unter gegebenen Voraussetzungen um, das zunehmend an die Stelle souveräner Eigenmächtigkeit tritt. Das hat Konsequenzen im Denken.

‘Modernisierung’ und ‘Erneuerung’ sind seit den 1980er Jahren zu Drohworten geworden. Das offenbar hegemoniale Projekt einer politischen Freisetzung der ökonomischen Zwänge der Kapitalakkumulation hat sich der Rede vom ‘Neuen’ erfolgreich bemächtigt. Gerade linke, emanzipatorische und widerständige Bewegungen beginnen inzwischen damit, das 20. Jahrhundert zur guten alten Zeit zu verklären.

Die neue Zeit scheint dem gegenüber nichts zu versprechen, und der Aufbruch in die neue Zeit ist anders als zum Ende des 19. Jahrhunderts, bzw. zu Anfang des 20. Jahrhunderts, wo das ein klassisches Thema sowohl der Liberalen als auch der sozialistischen Aufbruchs-Rhethorik war: Das theoretische Zentralorgan der deutschen Arbeiterbewegung hieß „Neue Zeit“ -, aber auch liberale Bürger sprachen in den wärmsten Tönen von den Segnungen der neuen Zeit. Vergleichbares ist heute nicht anzutreffen, von einer neuen Zeit wird gesprochen , aber die neue Zeit ist die Zeit des Krieges, die Zeit einer historischen Epoche, in der jede Perspektive auf Befreiung aufgegeben zu sein scheint, verloren gegangen zu sein scheint; und von dort aus denke ich, kann man hier nicht mehr von Zeitwende sprechen.

Der Begriff der Zeitwende ist ja traditionell heilsgeschichtlich besetzt, als eine Wende aus der linearen Zeit des gewöhnlichen Geschichtsablaufs in die messianische Zeit der Erlösung. Man kann auch nicht einfach von Umbruch sprechen, es wird nicht einfach der Zeilenfluss gebrochen, um damit die Spalten zu bilden, mit denen man dann einen lebensnahen Text der Geschichte erzeugt, sondern es ist ein Bruch in der Zeit eingetreten: Es ist etwas verloren gegangen, was wir vor zwanzig Jahren noch zu haben glaubten und was offensichtlich nicht so einfach zurückzugewinnen ist.

Die im 19. Jahrhundert konstituierten Einzelwissenschaften und die von ihnen getrennte Philosophie haben damit einen zentralen Bezugspunkt verloren. Ebenso der souveräne Nationalstaat, imaginiert als Moment einer sich in sich abschließenden Staatenwelt, als reales Bezugssubjekt der institutionalisierten gesellschaftlichen Wissensproduktion und der öffentlichen Meinung.

2. Kennzeichen der neuen Lage ist die um sich greifende Entgrenzung, die sowohl die politische Form des Nationalstaates, als auch die Denkformen der gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen (und die Lebensform der Familie) ergreift, wie sie zu Ende des 19. Jahrhunderts grundlegend geprägt worden sind und das ‘kurze 20. Jahrhundert’ weitgehend bestimmt haben.

In dieser Entgrenzung verändert sich auch die Gestalt der Subjekte, die sich in dem letztlich unwiderstehlichen Palaver artikulieren, welches die Menschheit seit ihren Anfängen betreibt. Gesellschaftliche Diskurse werden nicht länger auf ‘große Subjekte’ zugeschnitten und erst Recht nicht von ihnen zentralisiert.

Ich habe – auch dies eine philosophische Technik – in meinem Buch (Wolf 2002) den harmlos klingenden Begriff des Denkens in den Vordergrund gestellt. Ich sage harmlos klingend, weil jeder, der PhilosophInnen gelesen hat, weiß, was man alles unter Denken verstehen kann und weil im Hintergrund immer die schwierige Frage „wer denkt denn da?“ mitschwingt.

Ich will erst einmal die einfache Tätigkeit des individuellen Nachdenkens, des Versuchs, sich im eigenen Denken zu orientieren, hierunter verstehen und keine tiefsinnigen metaphysischen Aufladungen vornehmen.

Dies in einer Situation, in der eine Denkfigur offenbar obsolet ist, die ich zumindest in meiner intellektuellen Biographie noch sehr heftig miterlebt habe, nämlich die Denkfigur des „Klassendeterminismus“, die es natürlich auch in verschiedenen anderen Varianten gibt – es gibt auch die Denkfigur des „Geschlechterdeterminismus“, oder auch die Denkfigur des Determinismus von „Peripherie und Metropole“-, die einfach sagt: jemand denkt wie er denkt, weil er ist, was er ist. Wenn also Kleinbürger denken, dann ist das ganz gefährlich, und man muss ihnen das abgewöhnen; man muss erreichen, dass sie nicht denken, sondern lernen, und zwar lernen von einem bestimmten und richtigen Klassenstandpunkt aus.

Ich denke, es ist ein Glück, dass diese deterministische Denkfigur sich erledigt hat. Denn der paradoxe Aufruf, der dem zu Grunde lag, „Nicht Denken, sondern Lernen!“ hat auch viele intellektuelle Blockierungen und Sackgassen erzeugt.

Es ist nicht zu bestreiten: Wir leiden heute an erheblicher Verwirrung – und das ist sehr gut. Wir haben ein großes Problem, zu begreifen, was eigentlich unsere Geschichte ist, wer wir eigentlich sind: Wenn wir zum Beispiel auf dem Umweg über westberliner Geschichte in die Gegenwart blicken, warum kommt dann die ostberliner Geschichte nicht vor – auch bei Linken nicht?

Wir führen seit den 1990er Jahren einen heftigen Streit zwischen „Ökonomismus und Kulturalismus“ oder „Inhaltismus versus Formalismus“: Sucht mensch etwa nach dem „Öl als dem eigentlichen Inhalt“ der gegenwärtigen weltweiten Konflikte oder sieht man den eigentlichen Inhalt der gegenwärtigen hegemonialen Kämpfe in der Auseinandersetzung um die Durchsetzung einer spezifischen – und ich würde unterstreichen: „neuen“ Rechtsform, wie sie in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen um das geistige Eigentum im Rahmen der WTO oder um das „general agreement on trade and services (GATS)“ gesucht werden?

In derartigen Konfrontationen lehrt uns das Denken als erstes, dass derartige scharfe und platte Entgegensetzungen, wo dann Menschen mit großer Evidenz behaupten, dass ihre eigene Variante die eigentlich wahre ist, wenig weiter helfen. Denn das Reale ist zwar möglich – um Lacan zu parodieren, der für den therapeutischen Prozess das Gegenteil behauptete – aber es ist doch ziemlich schwierig und keineswegs einfach – und vor allem nicht von überall betrachtet und für alle dasselbe.

Der unmittelbare Zugang zum Realen scheint wohl nur vorhanden, wenn wir uns das Denken selber versagen und davon absehen, dass andere da sind, die es anders sehen. („Das ist doch ganz klar.., Das ist so, wie ich das sage.., verstehe nicht, warum Du das nicht so siehst“..)

Damit sind wir aber schon an den Grenzen des Denkens angelangt. Mensch muss da genauer auseinander nehmen, welche Arten von unmittelbarem Zugang zum Realen in solchen Unmittelbarkeiten des Realitätszugangs (Evidenzen) beansprucht werden – und da sind wir natürlich schon mitten in ‘klassischen’ philosophischen Themen – es wird beansprucht die „Evidenz“, es liegt auf der Hand, und wer das nicht sehen will, der ist dumm oder böswillig. Hier kann ich an die ältere Geschichte erinnern: Im demokratischen Athen wurden in der Antike vor Gericht sog. Evidenzbeweise wenig ernst genommen, mit dem Argument, eine Zeugenaussage oder ein Dokument könne mensch sich doch jeder Zeit kaufen; was viel ernster genommen wurde, waren argumentative Plausibilitätserwägungen, nach dem Modell: „Kann jemand in einer entsprechenden Situation derartiges getan haben, in vernünftiger Reflektion seiner eigenen Interessen?“ Wir machen das heute vor Gericht ganz anders, wir glauben an alle Beweise, die dort vorgelegt werden; nur stellt sich dann unter Umständen später heraus, dass einige davon gefälscht waren, was dann politisch wieder interessant wird. Und wir halten diese Art von argumentativen Erwägungen für weniger schlüssig als die alten Athener.

Derartige Vorstellungen wie die der ‘Evidenz’ – in diesem Fall geht es ja um ein unmittelbares Wissen über bewiesene Tatsachen – sind also weit weniger ‘absolut’, als zunächst immer angenommen wird. Gerade im Hinblick auf Tatsachenfragen in großen politischen Auseinandersetzungen gab es immer wieder Grund, dafür vorgebrachte ‘Evidenzen’ zu hinterfragen: Die von der philologischen Kritik der revolutionären Renaissancehumanisten entlarvte Fälschung der konstantinischen Schenkung ist nur die erste in einer bis heute reichenden Reihe von Fälschungen durch mächtige Institutionen.

„Die Wissenschaft hat festgestellt!“ ist vor dem Hintergrund von Medien und Wissenschaften, in denen immer wieder Fälschungen aufgedacht werden, kein hinreichendes Argument.

Ob aber Beweise schlüssig und glaubwürdig sind, darüber muss man nachdenken, darüber muss man sich mit anderen auseinander setzen, darüber muss man miteinander in eine Argumentation eintreten. Anders geht das nicht, und das Schwierige dabei ist, dass man es auch dort praktizieren muss, wo man meint, dass derjenige, der nicht sofort die Evidenz der Beweise anerkennt, damit einen moralischen Fehler begeht. Auch dort muss die Auseinandersetzung gesucht werden, es müssen Argumentationsebenen gefunden werden, in denen dann eine Klärung möglich ist.

 

3. Mit der Entgrenzung der Diskurse werden die philosophischen Konzepte der Aufklärung zu Wiedergängern, deren Gespenster zunehmend die zeitgenössischen Debatten unsicher machen.

Konzepte wie ‘Gerechtigkeit’, ‘Gesellschaftsvertrag’ oder ‘Souveränität’ werden zu Kristallisationspunkten und Artikulationsformen aktueller gesellschaftspolitischer Debatten in transnationalen Diskursen.

Das geschieht vor dem Hintergrund einer Veränderung des marginalisierten Status der Philosophie in Bezug auf wirkliche historische Auseinandersetzungen: Nachdem an die Stelle der trügerischen ‘Übersichtlichkeit’ des ‘Kalten Krieges’ und zunehmend auch der gesamten traditionell nationalstaatlich verfassten Politik und Wissenschaft eine ‘neue Unübersichtlichkeit’(Habermas) getreten ist, gibt es wieder Bedarf an einer Klärung grundlegender Streitfragen. Diese Streitfragen werden zudem wieder in der Perspektive der ersten Person im Hinblick auf eine offene Zukunft ausgetragen – Wer bin ich und was wünschen wir uns? – und nicht auf Fragen reduziert, was der Fall war und was zu erwarten steht. Auf den Trümmern vergangener ideologischer Gewissheiten entfalten sich diskursive Auseinandersetzungen in denen ohne philosophische Fragen, Vorstellungen und Begriffe nicht mehr argumentiert werden kann. Die an die Bedürfnisse der führenden Nationalstaaten des späten 19. Jahrhunderts gebundene Struktur der gesellschaftswissenschaftlichen Einzeldisziplinen erweist sich dabei als unzureichend, wenn nicht sogar als ein Hindernis für eine rationale Argumentation.

Hier nur ein paar Stichpunkte, die nicht weiter vertieft werden können: Immer wieder ist gedacht worden, die „richtige Methode“ könne den Zugang zum Realen garantieren, oder die „richtige Autorität“ könnte eine verlässliche Orientierung gewährleisten. Das hat sich zerschlagen. Manche sagen daher nur noch, man müsse sich einfach entschließen und dann entschlossen an seinem Standpunkt festhalten – das würgt aber jedes Denken oder Nachdenken ab und verschließt die derart Entschlossenen für die argumentative Auseinandersetzung.

Was wir dieser Sackgasse der falschen Evidenzen oder der bloßen Entschlossenheit jedenfalls entgegenstellen können, ist die einfache „Macht, Fragen zu stellen“ und die Fähigkeit dazu, jede ‘Evidenz’ oder ‘Autorität’ gezielt zu hinterfragen: Denn eine Argumentation darüber, ob bestimmte vorgelegte Beweise schlüssig und glaubwürdig sind, lässt sich dadurch prüfen, dass man Fragen dazu erfindet und formuliert, mit denen man die Schlüssigkeit und Glaubwürdigkeit der Beweise überprüfen kann. Und wer in der Lage dazu ist, derartige Fragen zu erfinden, hat erst einmal einen Vorrang in der Argumentation. Allerdings verlangen Fragen immer auch nach Antworten: Das heißt, dass Fragen immer auch so gestellt werden müssen, dass wir darauf jedenfalls grundsätzlich auch Antworten finden können.

Das führt zu einem zentralen Gedanken der von mir vorgeschlagenen ‘radikalen Philosophie’: man kann einerseits auch nicht darauf verzichten, Wahrheit zu beanspruchen, andererseits aber muss man sich eingestehen, das wir diese Wahrheit nicht fertig „im Sack“ haben; Wahrheit ist keine „einzustreichenden Münze“. Sie ist niemals frei von Auseinandersetzung, sie ist nicht unumkämpft, sie kann es nicht sein und sie darf es auch nicht sein.

Das führt zu dem Gedanken einer Wahrheitspolitik, zu einer Auseinandersetzung um die Grundlagen unseres Denkens, die auf Wahrheit, auf gemeinsam anerkannte Wahrheit zielt, ohne immer schon vorweg diese Wahrheit im Besitz haben zu wollen.

 

4. Radikale Philosophie entwickelt demgegenüber eine Art der intellektuellen Tätigkeit, welche die zunehmende Rückbindung kritischer Einzelwissenschaften an Philosophie kritisch mit vollzieht und dafür an der Aktualisierung der Konzepte der emanzipatorischen Linien der philosophischen Tradition arbeitet.

Radikale Philosophie stellt sich der Frage, was es denn angesichts der unerhörten weltweiten Polarisierung von Macht, wie sie sich seit dem Ende der 1970er Jahre vollzogen hat, überhaupt noch bedeuten kann, dass ‘alle Menschen Philosophinnen und Philosophen sind’. Sie ist ein Denken unter den „Vielen“, das wieder in das vielseitige Gespräch der Vielen eingeht.

Radikale Philosophie macht dadurch mit dem Gedanken ernst, dass auch das philosophische Denken sich innerhalb der gesellschaftlichen Verhältnisse, innerhalb der historischen Prozesse und Situationen vollzieht, ohne es deswegen aufzugeben. Dementsprechend geht sie davon aus, dass jedes philosophische Denken auf diese seine Voraussetzungen reflektieren muss, ohne sich darin jemals selbst einholen, ‘sich selbst über die eigene Schulter blicken’ (Peirce) zu können. Diese Voraussetzungen sind nicht einfach sachliche Bedingungen, sondern eine immer schon längst begonnene diskursive Praxis der Kritik, mit der viele beschäftigt sind, die sie auch bereits reflektieren und performativ gezielt einsetzen.

Diese Konzeption einer Radikalen Philosophie, welche mit der traditionellen Philosophieform bricht, ohne zugleich den unmittelbaren Übergang in ‘wirkliche Wissenschaft’ oder in gelingende gesellschaftliche Praxis zu versprechen, kann sich als Gegenbewegung zu einer säkularen Bewegung der ‘passiven Revolution’ in der Theorie begreifen, die mit Kierkegaard, Schopenhauer, Comte und Nietzsche eingesetzt hat und deren führende Exponenten Heidegger und Wittgenstein gewesen sind. Dabei kann sie ihrerseits anknüpfen an die Arbeiten der ‘radical philosophy’ in der angelsächsischen Welt, sowie an einige jüngere französischen Debatten um eine „Wahrheitspolitik“ bzw. um eine „Philosophie ohne Verstellung“.

Eine kritisch erneuerte philosophische Praxis kann sich an der Angel-Sächsischen „Radical philosophy“ als Leitbeispiel orientieren, um einen neuen Typus philosophischer Tätigkeit zu entfalten, welche die Partei der „Vielen“ ergreift, indem sie alle Verhältnisse kritisiert, in denen Menschen über andere Menschen eine Herrschaft ausüben. Sie tritt damit in diametralen Gegensatz zur seit Platon und Aristoteles vorherrschenden Orientierung der Philosophie auf eine Legitimierung von Herrschaft durch die Projektion einer ‘legitimen Herrschaft’ bzw. einer ‘gerechten Ordnung’.

Ein kritischer Rückblick auf die Philosophiegeschichte kann diese Haltung radikaler Philosophie in den frühesten ‘Inkunabeln der Philosophie’ (Klaus Heinrich) verankern: Solon, Thales und Pythagoras lassen sich als Träger einer Botschaft des Selberdenkens im Dienste der Selbstbestimmung entschlüsseln, in dem das Philosophieren noch nicht die vorherrschende Philosophieform angenommen hatte.

Auch im Hinblick auf gegenwärtige philosophische Tätigkeit kann eine Orientierung auf diskursive Herrschaftskritik und praktische Herrschaftsüberwindung umrissen werden, die sich nicht mehr idealistische auf bloße ‘Ideen’ stützt, aber auch nicht mit pragmatischer Arroganz totalisierende ‘Projekte’ entwirft, sondern ‘Initiativen’ ergreift, in denen immer schon antizipiert wird, dass ein begegnendes Handeln und Antworten die Orientierungen grundlegend verändern können. In diesem Sinne lassen sich vier zentrale ‘philosophische Initiativen’ einer kritischen ‘Wahrheitspolitik’ ausmachen, welche weder in relativistischer Gleichgültigkeit versinkt, noch der Versuchung zur Verabsolutierung des eigenen Wissens erliegt.

Eine derartige mehrstimmige und begegnende Praxis der Kritik wird in diesen vier Initiativen greifbar:

Erstens, Making sense our way, kontrollierte und gemeinsame Sinnschöpfung nach der Postmoderne, gegen die verbreitete postmoderne Position des „stop making sense!“ – d.h. ,es hat keinen Sinn, nach Sinn zu suchen‘ – die Selbstaufforderung zu setzen: „making sense our way“. D.h. uns zu fragen, wie wir im gemeinsamen Diskurs, im gemeinsamen Spiel von Frage und Antwort, und sei es vorläufig, sinnvolle Orientierungen produzieren und festhalten und wie wir auch ihren Bezug auf die reale Situation antizipieren und fixieren können.

Zweitens: reclaiming reality, Grundvertrauen auf den Realitätsbezug menschlichen Handelns und Denkens gegen einen modischen Skeptizismus, womit wir beanspruchen, dass wir das Reale erreichen können, ohne zu beanspruchen, dass wir einen privilegierten Zugang dazu haben, sondern aus der Vielfalt der Quellen, der Belege und der Zeugnisse uns immer auch das Reale im Argument und in Auseinandersetzungen, in Fragen und in Antworten rekonstruieren zu müssen. Das Reale ist uns nur durch das Imaginäre gegeben; aber es gibt kein Imaginäres, was nicht Spuren des Realen trägt, die wir entziffern können.

Das führt, drittens, zur Zuspitzung dieser Art von Realismus in Richtung einer verdrängten philosophischen Fragestellung, d.h. zum reclaiming matter, zur Einsicht in die konkrete Materialität (und Widersprüchlichkeit) aller wirklichen Verhältnisse, gegen einen falschen Abschied vom sog. ‘rohen Materialismus’. Unter dem fälschlich auf einen mechanischen und rückständigen „Materialismus“ fixierten Begriff, die eigene Rückverankerung, die eigene Materialität, – in körperlicher, historischer, technischer, biologischer, sozialer, historischer Materie – immer mit zu reflektieren. Dies geschieht, ohne dass wir glauben könnten, – das ist die eigentliche Pointe – , diese jemals fertig eingeholt zu haben.

Es geht also darum, eine Position zu beziehen, mit der wir (gegen die Urevidenz der herrschenden Philosophie) konsequent daran festhalten, dass wir selber keineswegs ein für sich selbst durchsichtiger Geist sind, der keine Spur von Erdenschwere oder

Kontingenz mehr an sich hat. Gerade, wenn wir diese Vorstellung, dass wir diese Materialität immer wieder auch aufsuchen und aufgreifen müssen, entsprechend ernst nehmen, dann kann man diese dritte Initiative auch damit beschreiben, dass es darum geht, die von uns erstrebte Autonomie, als Selbstbestimmung unter selber produzierten Regeln, unter kontingenten Umständen und materiellen Voraussetzungen theoretisch zu antizipieren und praktisch zu realisieren. Denken heißt dann eben in der Konsequenz, in dieses Reale hineinzusehen. Das verbindet sich dann mit der Initiative, durch die eben dieses Reale in Wirklichkeit verändert werden kann.

Viertens ergibt sich daraus die Notwendigkeit zu durchdenken, wer wir als Subjekte in der Geschichte sind und inwiefern und wie wir wirklich zu Subjekten unserer gemeinsamen Praxis werden können: realising autonomy, die wirkliche Praktizierung und im Prozess ihrer konsequenten Praktizierung auch die Durchsetzung gemeinsamer Selbstbestimmung der ‘Vielen’. Das umfasst die Fragen nach der Erkenntnis der gegenwärtigen Lage und nach einem ihr entsprechenden Projekt ihrer praktischen Aneignung in einem demokratischen Prozess. D.h. die Fragen von Demokratie und Sozialismus werden als Teil der von der radikalen Philosophie einzuholenden realen und materiellen Voraussetzungen erkennbar.

 

5. Vor diesem Hintergrund lässt sich eine vorläufig abschließende Definition des Selbstverständnisses radikaler Philosophie formulieren: Radikale Philosophie ist eine intellektuelle Tätigkeit, die vom Selberdenken jedes Menschen ausgeht und dessen Stärkung zum Ziel hat. Sie ist eine inkonklusive Gestalt der Wahrheitspolitik, die sich nicht mit relativistischer Gleichgültigkeit zufrieden gibt, die aber auch nicht beansprucht, die eigenen Wahrheitsziele selber und alleine einlösen zu können.

Als eine philosophische Tätigkeit unter den ‘Vielen’, die sich an eben diese ‘Vielen’ richtet, kann radikale Philosophie Wittgensteins Imperativ des Schweigens, wenn etwas nicht gleich klar gesagt werden kann, das Postulat entgegenhalten, im Prozess des gemeinsamen Redens allmählich die erforderlichen Klarheiten zu verfertigen. Das ermöglicht es radikaler Philosophie auch, sich auf das Gelände mehrdeutiger, umkämpfter und widersprüchlicher Begriffe vorzuwagen, ohne dabei der Illusion zu erliegen, gleichsam ‘einhändig’ Klarheit schaffen zu können: Sie weiß ihre eigenen Konzepte und ihre gesamte eigene Tätigkeit als zwar unverzichtbaren, aber nicht allein genügenden Vorläufer und Platzhalter wirklicher wissenschaftlicher Entdeckungen, politischer Erfolge oder künstlerischer Gestaltungen.

Damit bin ich bei der letzten Feuerbach-These angelangt: „die Philosophen haben die Welt verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern“ – allerdings ist hier anzumerken, dass Engels dem ein „aber“ hinzugefügt hat, was den gesamten Sinn verkehrt.

Denn das Interpretieren der Philosophen ist nicht der „Gegensatz“ zum Verändern, sondern einer von dessen „Ausgangspunkten“.

Hier ist noch ein Gedanke hinzuzufügen, den Marx an dieser Stelle nicht denken konnte: In einem Zeitalter der passiven Revolution wächst die Bedeutung dieser Tätigkeit der Philosophen – in der Errichtung von intellektuellen Hindernissen ebenso wie bei ihrem möglichen Wegräumen: Seit Bismarck, Cavour oder Napoleon III. befinden wir uns m.E. in einer solchen Situation, in der die intellektuelle Welt beständig so umgewälzt wird, dass Herrschaft als legitim und Befreiung als Illusion erscheint, dass Aufklärung als Unterdrückung und Aberglauben als Freiheit dargestellt wird. Dies geschieht keineswegs mehr nur in der Form, dass einzelne das in irgendwelchen Pamphleten verbreiten, sondern so, dass dies in ganzen wissenschaftlichen Disziplinen materielle Gestalt annimmt. Wie zum Beispiel in bestimmten Bereichen/Varianten der Politologie, wo gesagt wird: „Herrschaft ist vorausgesetzt, und wir kümmern uns darum, wie man Herrschaft funktionabel machen kann, wie man Herrschaft reproduzieren kann“. Damit werden natürlich die entscheidenden Fragen ‚was sind die Voraussetzungen von Herrschaft und wie kann Herrschaft überwunden werden’ aus dem Komplex der Betrachtungen/Forschungen ausgeklammert. Und damit exekutiert eine derartige Forschung die passive Revolution auf dem Feld der Theorie. Und es ist ja auch kein Geheimnis, dass große Philosophen des 20. Jh. genau daran gearbeitet haben, wie man den Menschen als Subjekten ihres Handelns klar machen kann, dass ihre Eigentlichkeit als ‘Entschlossenheit’ den Schritt zu einer geschlossenen/ allgemeinen Unterstellung unter das große Subjekt der ‘Nation’ oder unter andere Subjekte bedeutet, oder dass sie durch Denken keine Kritik üben können, sondern „Alles so lassen“ müssen, „wie es ist“.

In der Philosophie ist in den letzten 150 Jahren aktiv daran gearbeitet worden, jedes Denken von Aufklärung und Befreiung zu blockieren oder zu pervertieren. Die positivistische Zuversicht, mit den Fortschritten einzelwissenschaftlicher Forschung würden sich die philosophischen Fragen gleichsam von selber erledigen, hat sich im historischen Prozess dementiert. Offen oder verdeckt herrschaftsaffirmative Philosophien haben erfolgreiche Vorstöße übernommen, um den öffentlichen wie den privaten Gebrauch von Vernunft unter Verdacht zu stellen und ihn jedenfalls von allen ernsthaften praktischen Konsequenzen abzutrennen. Daher ist radikale Philosophie notwendig, um kritisch dagegen an zu arbeiten, um diese Blockierungen und Pervertierungen von Aufklärung und Befreiung aufzuheben – durch Kritik. Was die Selbstkritik an einer aus Ungedachtem und Verdrehtem gespeiste Dialektik der Aufklärungstätigkeit und der Befreiungspraxis mit einschließen muss.

Allerdings kann radikale Philosophie nicht länger beanspruchen, selber an die Stelle der wirklichen Wissenschaft, an die Stelle des „freien künstlerischen Entwurfs“ oder der befreienden politischen Tat zu treten. Sie kann sich nicht einmal mehr als verschmolzenes Element der wirklichen „Kritischen Theorie“ imaginieren, welche die Wirklichkeit in ihrer Totalität erfasst. Sie kann aber immer noch wesentliche Blockierungen des theoretischen Begreifens der Wirklichkeit wie der herrschaftsüberwindenden Praxis durch ihre Kritik identifizieren und wegschaffen. Auch ohne dafür einen Monopolanspruch zu erheben, kann sie durch philosophischen Initiativen Räume für die eigenständigen wissenschaftlichen, künstlerischen und politischen Vorstöße anderer öffnen. Sie ist mit anderen Worten selber Bestandteil eines Geflechtes begegnender Praxis, in der ihre Stimme als eine unter vielen im Konzert immer wieder daran arbeitet, den „Vielen“, welche die traditionelle Philosophie verachtet, Gehör zu verschaffen.

 

6. Radikale Philosophie als ein transnationales intellektuelles Unternehmen tritt zunehmend an die Stelle der deutschen Nachkriegstradition einer Kritischen Theorie, die sich vor allem als Gesellschaftstheorie, sogar als Soziologie der gegenwärtigen Gesellschaft, begreift.

Denn angesichts eines sich in Konformismus und Scheininnovationen erschöpfenden Mainstreams sind alternative Analysen und Visionen nötiger denn je. Churchills zynisch-realpolitische Haltung, wer Visionen habe, solle zum Augenarzt gehen und sich aus der Politik heraushalten, ist längst zur paradoxen Ideologie eines perspektivlosen ‘Weiter so!’ geworden, das alle kritischen und skeptischen Argumente für die These umfunktioniert, die großen Probleme seien weder theoretisch zu erkennen, noch praktisch zu lösen. Allerdings gibt es nach den großen Schiffbrüchen des 20. Jahrhunderts einigen Anlass dazu, von jeder Anmaßung Abschied zu nehmen, jetzt etwa einen neuen Typ von ‘unsinkbaren Ozeandampfern’ auf Kiel zu legen. Nicht einmal eine auf großer Fahrt umzubauende Argo ist noch ein sinnvolles Bauvorhaben. Ehe alle und alles im aussichtslosen Kampf um ein ‘Floß der Medusa’ untergehen, gilt es, eine Reihe von soliden Flößen zu bauen und miteinander zu verbinden, deren Balken in der Tat auch ‘auf großer Fahrt’ ausgewechselt werden können, und deren Konfiguration künftigen wechselnden Bedürfnissen angepasst werden kann. Auch wenn es einmal wieder, um im Bilde zu bleiben, um den Bau von Häfen oder Werften gehen wird, werden sich diese Bauelemente nützlich weiter verwenden lassen. In diesem Sinne geht es hier relativ bescheiden um ‘radikale Philosophie’ und nicht unmittelbar um eine alternative Gesellschaftstheorie und Politik.

Insofern kann radikale Philosophie anknüpfen an das m.E. erfolgreichste philosophische Projekt der Moderne, nämlich an das von John Locke, der bloß den bescheidenen Anspruch erhob, nicht etwa Theorie zu produzieren, sondern nur dafür Platz zu machen: Wir sind nur der „Unterarbeiter“, der den Boden bereitet dafür, dass andere konstruieren können’, wobei Newtons Physik dabei schon mitgedacht war. Dessen Erbe hat inzwischen die analytische Philosophie angetreten. Radikale Philosophie können wir daher auch als eine Gestalt „post-analytischer Philosophie“ artikulieren (vgl. die Zeitschriften „Radical Philosophy“, London, und „Radical Philosophical Review“, Boston).

Radikale Philosophie ist in diesem Sinne nichts Fertiges. Sie findet immer schon statt und muss dennoch immer wieder neu ansetzen. Das geduldige Weben der Penelope, die tagsüber webt und nachtsüber ihr eigenes Gewebe auftrennt, bis Odysseus endlich heimkehrt, kann ihr als orientierende Metapher dienen. Ob Odysseus heimkehren wird, ist allerdings fraglich geworden. Dennoch wird sie keinen der aufdringlichen Freier akzeptieren.

Radikale Philosophie eignet sich als ein unabschließbares, vielleicht sogar aporetisches Unterfangen schlecht zur Schulbildung oder gar zum Marketing.

Mit einem kleinen Schuss Ironie sei dazu abschließend der Regisseur Matthias Hartmann zitiert: „Ich fürchte mich vor jeder Schublade und bemühe mich, ihnen immer wieder zu entkommen, andernfalls bestünde die Gefahr, dass ich einem der engen Klischees sonst eines Tages erliege, dass ich mir eines der Markenzeichen glaube, das man sich selbst zur Abgrenzung von anderen Regisseuren (hier: Philosophen) gemacht hat. Und das soll nicht sein.“ (Tagesspiegel, 17.5.02)

Literatur

Helmut Martens/Gerd Peter/F. O. Wolf, Zwischen Selbstbestimmung und Selbstausbeutung, Frankfurt/New York: Campus 2001
Frieder Otto Wolf, Radikale Philosophie. Aufklärung und Befreiung in der neuen Zeit, Münster: Westfälisches Dampfboot 2002